Thema: Was ist meine Aufgabe? (Phil 3, 7-14)

Phil 3, 7-14

7 Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet.

8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne

9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird.

10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden,

11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.

12 Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.

13 Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich's ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist,

14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.

 

 

1.       Was ist meine Aufgabe

Was ist meine Aufgabe? Was ist meine Aufgabe im Leben?

Was ist unsere Aufgabe als Christen in dieser Welt?

Was ist Ihre, deine Aufgabe im Beruf, Familie oder Gesellschaft?

Und - Was ist meine Aufgabe als Pfarrer in Raunheim?

Sie haben eben in meiner Vorstellung eigentlich alles zu dem gehört, was ein Pfarrer in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zu tun, zu fordern und zu fördern hat. Diese Pflichten werden dem Pfarrer bei der Ordination "vorgehalten", deshalb der Begriff "Ordinationsvorhalt". Das ist meine eine Dienst- und Arbeitsbeschreibung seit 1998.

Die klassischen Aufgabe kennen Sie. Ebenso wie der Kollege Merten habe ich als Pfarrer der Pfarrstelle II - also Melanchthonbezirk-  in Raunheim die Pflicht: Zu verkündigen, Sakramente zu verwalten, zu seelsorgen, zu taufen, zu unterweisen und zu erziehen, zu begleiten bei Beerdigungen, Hochzeiten und vielen anderen Gelegenheiten mehr.  

Bleibt man realistisch, so ist diese Dienstbeschreibung - wie jede Arbeitsplatzbeschreibung in Unternehmen und Organisationen auch - vielfach mit Begriffen besetzt, die mehr Platzhalter als konkrete Handlungsanweisungen sind. Denn, wie gepredigt, wie betreut, wie geseelsorgt wird, unterscheidet sich von Pfarrperson zu Pfarrperson. Sie als Gemeinden Luther und Melanchthon haben mit den Jahrzehnten durch die Langzeitpfarrer Ludwig und Hill eine doch recht homogene, gleichbleibende Situation pastoraler Versorgung erfahren. Unzweifelhaft sind die letzten Jahre in den damals noch getrennten Gemeinden unterschiedlich und teils mit kurzfristigen pastoralen Bekanntschaften vollzogen worden. Nichts desto trotz ist die Gemeinde und die pfarramtliche Versorgung - im Vergleich zu den meisten Kirchengemeinden in unserer Kirche schlicht üppig.

Was ist nun meine Aufgabe - neben den klassischen Pfarrtätigkeiten - für die unzweifelhaft kurze Zeit von 12 Monaten?

Was ist also meine Aufgabe hier? Lassen Sie es mich klar, einfach und deutlich sagen. Die, die mich schon erlebt haben, wissen, dass ich ein Freund der direkten und klaren Ansprache bin. Deshalb gerade heraus:

Ich bin hier in der Kirchengemeinde Raunheim, um Christi Willen und seiner Botschaft auch in jedes erdenkliche Fettnäpfchen zu treten, was in Luther und Melanchthon von wem auch immer aufgestellt ist, überwintert hat oder gepflegt wird. Ich denke in den letzten drei Wochen habe ich schon mein Bestes gegeben. Eine Vielzahl von Freude, Stirnrunzeln und Irritationen habe ich dabei scheinbar schon erzeugt. Und ich gestehe: Ich liebe es. Denn - unter Christenmenschen ist es geradezu eine Freude, Probleme, Geflogenheiten, Missgunst und Neid oder auch Traurigkeiten und Abschied von Liebgewonnenen anzufassen. Denn: Christenmenschen sind ja nicht nachtragend. Eigentlich.

2.       Bibeltext

Auch unser Predigttext spricht von Aufgaben und Pflichten; wenn auch sehr aggressiv und ungewöhnlich deutlich für Paulusbriefe insgesamt. Lassen Sie uns den Text gemeinsam ansehen. Er steht auf dem Blatt. Vorlesen. Der heutige Predigttext ist - vergleicht man es mit den anderen Ermahnungen / Paränesen aus den paulinischen Briefen - die härteste und schroffste Ermahnung. Die Textpassage bricht mit dem Stil des sonstigen Philipperbriefes. Unser Predigttext und seine Sprache ist im Original noch viel derber und heftiger als die Luther Übersetzung von 1984 vermuten lässt. Dort wo "Dreck" im Vers 8 steht muss das griechische Wort σκúβαλα [skübala] eigentlich mit Mist, Scheiß, heute umgangssprachlich mit "Kacke" übersetzt werden. Die Lutherbibel von 1912 übersetzt noch "Kot". Ja, Paulus redet von "Kacke". 'Lasst diese Kacke und kümmert euch um die Gerechtigkeit Gottes' - so könnte oder muss man die Botschaft des Predigttextes mit den Worten des Paulus zusammenfassen.

Warum ist Paulus so deutlich, so brutal, heute würde man sagen "unsachlich"? Um was geht es Paulus? Der Hintergrund für den Ausbruch von Paulus liegt in der Verteidigung der Gerechtigkeit Gottes gegen falsche Missionare, die in der jungen Christengemeinde Philippi wieder eine Verdienst-Gerechtigkeit nach Menschenart einführen wollen. Verdienst nach Menschenart statt die Gerechtigkeit Gottes als geschenkte Gnade. Paulus ist erbost und derb, weil alle Gnade, Zuneigung und Liebe, die er gepredigt hat, wieder in der Gefahr steht, durch eine Menschengerechtigkeit, durch menschliche Selbstverliebtheit abgelöst zu werden. Er redet von sich, weil er damit die Schärfe der Sache Christi deutlicher macht. Und - Es schmerzt ihn. Deshalb wird er grob, direkt. Um der Sache willen.

Paulus hat nach der Apostelgeschichte in Makedonien, genau hier in Philippi die erste Gemeinde in Europa gegründet; mehrheitlich Christen, die vorher keine Juden waren. Heute ist Philippi eine Ruinenstadt, Unesco Welterbe im Osten Griechenlands. Damals ging es für Paulus um die Sache; um die Gerechtigkeit Gottes. Eine Gerechtigkeit, die alle bisherigen Auslegungen von dem was gerecht, was richtig oder normal ist, komplett auf den Kopf stellt. Die Gerechtigkeit Gottes ist keine Gerechtigkeit, die durch Gesetze, Ethik, Wohlverhalten, gute Taten, Traditionen, oder sonstige nette Handlungen erzeugt oder gar befördert werden kann.

Nicht der Eigennutz oder >der Ausgleich, um keinem Weh zu tun< oder >weltliches richtig handeln< oder >dass es gerecht zugehen soll< ist gemeint. Blödsinn, Menschenwerk, Mist in Paulus Augen. Denn niemals kann Selbstverliebtheit zur Aussöhnung mit Gott und zur Auferstehung führen. Niemals - deshalb nennt Paulus es - σκúβαλα - Mist, Dreck, Kacke eben.

3.       Jesus Christus, die Gerechtigkeit Gottes

Die Gerechtigkeit Gottes steht für Paulus auf dem Spiel; und zwar weil es scheinbar Menschen in Philippi gibt, die die eigene Gerechtigkeit vor die Gerechtigkeit Gottes setzen.

Was ist diese Gerechtigkeit Gottes? Was will und fordert und verlangt sie? Mit dem Begriff Gerechtigkeit Gottes gelangen wir zu dem wesentlichen Kern unseres Glauben: Gott ist gerecht in und durch Jesus Christus. Durch die Entäußerung, durch das Leiden und das Knechtwerden Jesu tritt uns Gott in einer völlig neuen Gerechtigkeitsform entgegen.

Völlig NEU, weil diese Gerechtigkeit Gottes nicht mehr auf Gegenleistung, Belohnung, Tradition, Reichtum, Bildung, Gewohnheiten oder Normen, Regeln durch Gesetze oder auch Prozess- und Qualitätsmanagementsysteme angewiesen ist, sondern allein auf die Gnade und die Liebe von Gottes eigener Leistung in Christus. Diese Leistung ist unverfügbar und dennoch ein unglaubliches Geschenk. Nichts, niemand, niemals - kann diese Gerechtigkeit hinterfragt, genutzt, benutzt, verwendet oder gebraucht werden im Eigeninteresse. Diese Gerechtigkeit ist KEINE Macht in der Welt, sondern die Ohnmacht Gottes in Kreuz und Auferstehung zur Hoffnung.

Sie - die Gerechtigkeit Gottes in Christo - ist der Kern jeder christlichen Hoffnung, jeder evangelischen Tradition oder evangelischer Zukunft. Eine Zukunft ohne die Gerechtigkeit ist weltliches Gedöns, Geplapper, Selbst-Aufgeblasen-Sein. Die Gerechtigkeit Gottes mag für die Welt Unsinn, paradox sein. Aber gegenüber der Selbstgefälligkeit der Welt ist die Gerechtigkeit Gottes für uns Evangelischen, die einzige, die wesentliche und richtungsweisende Gerechtigkeit.

Und diese Gerechtigkeit fordert >Dienen statt herrschen<, >aufeinander zugehen statt trennen<, >vergeben statt fluchen<, >Bereitschaft - wie es Vorhalt zur Ordination heißt - am Aufbau der Gemeinde mitzuwirken, zur Einheit unter Jesus Christus gerufen und zum Dienst in der Welt ermutigt zu werden.<

4.       Raunheim

Ich weiß nun nicht, ob das Fettnäpfchen oder der Fetttrog, in den ich nun springe möglicherweise zu groß und zu schwer ist für mich allein. Aber mein Auftrag und Aufgabe fordern es. Lassen Sie mich deutlich werden; und ich bitte schon all jene um Verzeihung, die sich ungerecht behandelt fühlen. Prüfet!

Ich bin nun den 24. Tag in dieser Gemeinde als Pfarrer.

Ich habe viele Ressourcen, Chancen, interessante Menschen, helfende Hände und viel Hoffnung gesehen.

Und dennoch ist mein Herz zutiefst betrübt. Denn meine Aufgabe ist es, die Gemeinde, die Evangelischen hier in Raunheim zu ermahnen, zur Einheit unter Jesus Christus zu rufen und euch zu ermutigen.

Ich habe derart viel Gräben, viele Nicklichkeiten, viele Herablassungen, viele Überheblichkeiten, unbotmäßigen Äußerungen, Sticheleien, das Sich-abgrenzen, andere ausgrenzen und alleine sitzen lassen, im eigenen Saft braten, wegwerfende Sätze, Kopfschütteln, Gesichtverziehen gesehen, dass mein Herz blutet. Die unsichtbare Barriere, die Demarkationslinie zwischen beiden Gemeindebezirken, ab der in Raunheim scheinbar scharf geschossen wird. Unerträglich. Und die Namen von Luther und Melanchthon müssen für diese σκúβαλα, diese Kacke der Herz-, Lieblosigkeit und Eigensucht herhalten.

Das muss Aufhören. Nicht irgendwann, nicht nach Weihnachten oder als guter Vorsatz an Silvester. Das muss Aufhören. Nein - das hört auf. Jetzt!

Meine Aufgabe ist es, mich und euch alle zur Einheit unter Jesus Christus zu rufen, zu ermahnen, zu begleiten und zu ermutigen. Nicht weil ich als Verwalter oder Betriebswirt da bin. Sondern: die Gerechtigkeit Gottes muss wieder in Raunheim einziehen. Sie verlangt ihren Tribut. Schluss mit dem Mist der gegenseitigen Missachtung in Tat, Wort oder Gedanken. Schluss mit dem herzlosen und hirnlosen Grabenkriegen. Damit muss Schluss sein; jetzt. Wie wollen wir das Abendmahl feiern, das Sakrament der Gerechtigkeit Gottes unter diesen Bedingungen? Wie soll das gehen? Wir - die Heiligen Gottes und Weiterträger seiner Gerechtigkeit - sind doch kein Grüppchen, was Kerzchen anzündet und mit Tüchern wedelt nur um sich dann unter der Tischkante, am Telefon, im Ort, bei den Gruppen, beim Kita- & Gemeindefest zu treten, wo es nur geht? Schluss damit. Die Gerechtigkeit Gottes zieht in Raunheim ein. Und Freunde in Christo, ich brauche euch alle! Geht raus und sagt es den Nachbar, den Freunden, den Bekannten: Die Gerechtigkeit Gottes hält Einzug und fordert ihren Tribut. Geht hin, verzeiht, entschuldigt euch, seid eines Geistes in Christo.

Und hört auf euch an Wunsch- und Idealbilder zu hängen. Diese Idolatrie von Pfarrpersonen nimmt manchmal gefährliche Züge an. Klar - früher war alles besser, als es noch keine Wasserklos gab. Wie Paulus, wie Luther, wie Melanchthon, wie Hill, wie Ludwig, wie Giehl, wie Giese, wie Reichhard, wie Merten, wie Stenzel, wie Koch und wie Becker - sind wir nur die Diener der Gemeinde, keine Götzen oder Idealbilder, keine Parteigänger, sondern Diener, die ersten Diener.

Wir alle hier dienen den Nächsten, gerade im Besonderen dem Menschen im anderen Pfarrbezirk (sei es Luther oder Melanchthon), dem ich eigentlich nicht angehöre oder angehören will.

Gegenseitig. Füreinander. Miteinander. Aufeinanderzu. Das ist die Gerechtigkeit Gottes heute, hier in Raunheim. Weil wir als Christen die Träger, die Boten, die Heilbringer dieser Gnade Gottes, seiner Gerechtigkeit in Raunheim sind; zur Auferstehung seiner Hoffnung. Wir sind das! Wir stellen die Grenzlinie zur Hoffnung der Gerechtigkeit Gottes in dieser Welt dar; hier in Raunheim. Alle!

Also Schluss damit, sich das Leben als Christ und als Christen gegenseitig schwer zu machen. Es ist ganz einfach. Wir sind - Jeder von euch ist eingeladen an den Tisch des Herrn. Und jeder möge sich prüfen, ob er oder sie heute schon bereit ist.

Kai Merten und ich stehen auch für die persönliche Beichte zur Verfügung und Lossprechung zur Verfügung.

Also. Heute. Jetzt. Und Schluss mit der - wie Paulus sagt - Kacke.

Amen.

 

Herr, schenke Raunheim Kraft, Mut und Zuversicht. Amen.